Kunst einer Seerepublik – Die venezianische Malerei

Venedig ist ein Ort, mit dem man vieles verbinden kann. Heute vor allem ein beliebtes Ziel für zahllose Tourist:innen, war die Stadt schon immer ein Anziehungspunkt für Menschen aus aller Welt. Als mächtige Seerepublik, deren Hegemonie sich vom Veneto über Dalmatien bis ins östliche Mittelmeer erstreckte und deren Handelsnetzwerke noch weit darüber hinaus, blieb Venedig lange politisch wie ökonomisch unabhängig und konnte ein einzigartiges gesellschaftliches System aufbauen, das über viele Jahrhunderte Bestand hatte. Strategisch günstig gelegen, zwischen Ost und West, Nord und Süd, war die Stadt ein Umschlagplatz für Luxusgüter; ein Knotenpunkt, an dem Leute und Einflüsse verschiedenster Herkunft zusammenkamen und aufeinander wirken konnten. Anfang des 15. Jahrhunderts galt Venedig, trotz bereits schwindender politischer Macht, als eine der größten und reichsten Städte des Westens, mit einem fast schon mythischen Ruf.[1] Dieser Reichtum schlug sich in verschiedenen Formen nieder: prunkvolle Paläste, opulente Spektakel – der venezianische Karneval ist auch heute bekannt – oder auch in einer Vielfalt von Kunst, die von einer breiten Schicht kaufkräftiger Auftraggeber:innen gefragt war und von der besonderen Atmosphäre dieses Ortes profitieren konnte.  

Entwicklung und Einflüsse

Die venezianische Malerei stand zu Beginn lange in byzantinischer Tradition und nahm bis ins 14. Jahrhundert nur zögerlich äußere Einflüsse an. Mit der Expansion auf das Festland und dem Ausbau der Handelsnetze in den Norden vermehrten sich allerdings Elemente internationaler Gotik und eines weicheren Stils. Ihre erste Blüte lag im 15. und 16. Jahrhundert; die Lagunenstadt brachte dabei einige der bedeutendsten Künstler:innen ihrer Zeit mit großer Nachwirkung hervor; angefangen bei Giovanni Bellini (1437-1516) und seinem Bruder Gentile (1429-1507), welchen oft die Entwicklung eines venezianischen Stils zugeschrieben wird, über Giorgione (1477-1510), Tizian (1488/90-1576), Veronese (1528-88), Tintoretto (1518/19-1594) und weitere. Die wohl herausragendsten Elemente ihrer Malerei waren dabei der Kolorismus, also die besondere Betonung der Farbe, und ihre eher sinnliche Herangehensweise mit Fokus auf die unmittelbare Wirkung des Bildes, mit welcher ihre Werke auch heute noch die Betrachter:innen in ihren Bann ziehen.[2]

Insgesamt orientierte sich die Kunst Venedigs weniger an den Entwicklungen des übrigen Italiens, war diesen aber in mancher Hinsicht durchaus voraus. Durch die regen wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen mit Zentren wie Augsburg oder Brügge, aber auch durch Reisende aller Art, herrschte ein freier Austausch von Waren und Ideen. Zahlreiche Künstler:innen aus anderen Regionen kamen nach Venedig, lernten von den dortigen Techniken und bereicherten sie ihrerseits. Prominente Beispiele für mögliche gegenseitige Beeinflussungen finden sich bei Albrecht Dürer (1471-1528) und Giovanni Bellini sowie bei Giorgione und Albrecht Altdorfer (1480-1538).[3] Darüber hinaus setzte sich bereits sehr früh das Medium der Ölfarbe durch und der stetige Zugang zu guten Stoffen begünstigte die Verwendung von Leinwand. Ebenfalls von großer Bedeutung für die Entwicklung des lokalen Stils war ein Dialog mit der deutschen und niederländischen Landschaftsmalerei: So erscheint die Natur als Hintergrund, mit atmosphärischer Verbindung zum Bildnarrativ, oder gar als vorrangiges Bildelement, etwa zur gleichen Zeit an beiden Orten; zu sehen beispielsweise im Werk Giorgiones.[4]

Neben importierten spielten aber auch genuin lokale Einwirkungen bei der Entwicklung spezifischer Eigenheiten der venezianischen Malerei eine Rolle: So kann das besondere Verständnis des Zusammenspiels von Farben, Licht und Kontrasten von der Lage der Stadt inmitten der Lagune und ihrer Architektur bestärkt worden sein, durch welche die Künstler:innen auf täglicher Basis z. B. mit den wechselnden Lichtreflexen auf dem omnipräsenten Wasser und dem Gegenlicht in den zu diesem hin orientierten Häusern konfrontiert waren.[5] Des weiteren kann z. B. auch die Mosaikkunst, welche hier zur Zeit der Renaissance noch lebendig gehalten wurde, für die Entwicklung des venezianischen Kolorits und der feinen Farbabstufungen von Bedeutung gewesen sein und das dort produzierte Murano-Glas wird hinsichtlich Transparenz und Farbton als Inspirationsquelle angesehen.[6]

Tizian

Unter den in dieser Umgebung aufgestiegenen Künstlern:innen gab es einen, dessen Ruf alle anderen überstrahlt. Tiziano Vecellio stammte aus dem kleinen Ort Pieve di Cadore in den Dolomiten, ging aber schon in jungen Jahren nach Venedig, um Maler zu werden. Seine Lehre begann wohl beim Mosaizisten Sebastiano Zuccato (1450-1527), von wo aus er zu den damals einflussreichsten Malern der Stadt, den Bellinis, gelangte. Dort kam er auch bereits mit einigen anderen späteren Größen der venezianischen Malerei, wie Palma Vecchio (1480-1528) und Giorgione in Kontakt. Sein Ruhm als Kolorist wurde dabei schon früh in seiner überaus langen Karriere aufgebaut: Bereits in den 1530ern lobte Pietro Aretino (1492-1556) seine Farbgebung als die Natur übertreffend; etwas, das in den folgenden Jahrzehnten von anderen Autor:innen aufgegriffen wurde. Auch er trug dabei zum künstlerischen Austausch der Lagunenstadt bei und profitierte von diesem. Er reiste selbst u. a. nach Augsburg, um für die Habsburger zu malen und beschäftigte deutsche und niederländische Maler:innen in seiner Werkstatt.[7]

In der Tat gelang es Tizian, alle örtlichen Konkurrenten:innen bei weitem zu übertreffen. Obwohl er dabei sämtliche Bildgattungen bedienen konnte, war er besonders mit seinen herrschaftlichen Portraits erfolgreich, deren Typus er prägte. Letztlich wurde er zum – in diesem Ausmaß vielleicht ersten – international gefragten Maler mit mächtigen Förderern, wie Kaiser Karl V. und dem spanischen König Philipp II. Dabei ließ sich im Laufe der Zeit ein Stilwandel bei ihm beobachten: Waren seine frühen Werke von einer sehr feinen und detaillierten Ausführung geprägt, wechselte er dagegen später zu einem fleckigeren Stil, mit deutlich sichtbarem Pinselduktus. Zeitgenössischen Quellen nach „könne man [diese Bilder] nicht aus der Nähe betrachten, aus der Ferne wirkten sie aber perfekt“.[8] Diese Technik der Macchia-Malerei wird möglicherweise auch von der Mosaikkunst mit inspiriert gewesen sein, der Tizian schließlich schon bei seinem ersten Meister begegnet war.[9]

Wettstreit der Malereischulen

Obgleich Tizian in seiner Heimat und seinem Metier als unerreicht galt, sah sich Venedig zur Zeit der Renaissance in Konkurrenz zu den anderen Kunstzentren Italiens. Ein besonders deutlicher Unterschied auf dem Gebiet der Malerei zeigt sich mit Blick auf Florenz und Rom. Die dortige Kunst baute mehr auf dem Zeichenstudium und antiken Idealen auf und war analytischer als die koloristische der Venezianer:innen, welche es bevorzugten, nach der Natur zu malen. Dem zugrunde lagen unterschiedliche Auffassungen dessen, was die Kunst überhaupt erreichen sollte. Während die Florentiner:innen der Meinung waren, dass es das Ziel sei, das Vorbild der Natur zu übertreffen, sahen die Venezianer:innen Perfektion in der vollkommenen Nachahmung der Natur. Dies spiegelte sich merklich in der Kunsttheorie, bzw. -literatur wider. So proklamierte der florentinische Maler Giorgio Vasari (1511-1574) – eine der prägendsten Figuren der Kunstgeschichtsschreibung der frühen Neuzeit – das Primat einer auf dem disegno (Zeichnen, im weiteren Sinne auch der geistige Entwurf) basierenden Kunst in Florenz und Rom. Das intensive Zeichenstudium sei dabei wichtig, um sich vom unmittelbaren Vorbild zu lösen, seine Entwürfe zu ordnen und weiterzuentwickeln.[10] Hintergrund war dabei stets auch der Versuch, den gesellschaftlichen Stand der Künstler:in, welcher damals noch formal den Handwerker:innen zugeordnet wurde, zu erhöhen. Indem Vasari in seiner Theorie Entwurf und Ausführung voneinander trennte, versuchte er die künstlerische Tätigkeit als eine vorrangig geistige zu definieren. Die venezianische Malerei, bei der die Künstler:innen zwar durchaus auch Studien und Unterzeichnungen auf ihren Werken anfertigten, die als eher handwerklich oder materiell angesehene Arbeit auf der Leinwand aber meist vorrangig war, stand dabei für ihn im Widerspruch. So wundert es nicht, dass er selbst Tizian höchstes Lob für dessen Fähigkeiten aussprach und ihn zum vollkommenen Naturnachahmer erklärte, ihn aber eben deshalb gleichzeitig als anderen Meistern wie Michelangelo (1475-1564) oder Raffael (1483-1520) nicht ebenbürtig ansah.[11]

Anders sieht es in der Literatur Venedigs aus. So versuchten die Autor:innen dort im 16. Jahrhundert erschienener Malereitraktate, Paolo Pino (1534- 1565) und Lodovico Dolce (1508-1568), die Malerei zwar ebenso wie ihre Kolleg:innen aus Florenz zu nobilitieren, wollten sich aber nicht deren Argumentation allein über den Begriff des disegno anschließen. Entsprechend ihrer eigenen Tradition zielten sie stattdessen auf die Etablierung einer Trias, bestehend aus invenzione, disegno und colore (Erfindung, Zeichnung und Farbe). Damit bezogen sie sich nicht nur allein auf den geistigen Ursprung zur Erhebung der Künstler:in und werteten den handwerklichen Teil der Malerei nicht ab. Letztlich versuchten dabei beide Seiten, die Überlegenheit ihrer eigenen Malschule zu belegen, auch anhand ihrer Meister.[12]

Wirkung auf Europa

Auch wenn die venezianische Malerei im übrigen Italien nicht vollends anerkannt und in der Kunstgeschichte die toskanisch-römische Schule nach Vasari sehr dominant war, so hat die venezianische international umso größere Spuren hinterlassen.
Ganz konkret lässt sich dies auch an Tizian aufzeigen. Nicht nur seine Zeitgenoss:innen verehrten ihn; auch im 17. und 18. Jahrhundert wurde er besonders für sein Kolorit und seinen Realismus geschätzt. Schließlich waren seine Werke in den Sammlungen der Oberschicht in vielen Teilen Europas präsent und konnten dort von anderen Künstlern:innen studiert werden. So entwickelte sich z. B. in England eine große Nachfrage nach explizit venezianischen Bildern oder Motiven. Werke Tizians waren dabei in der höfischen Sammlung und beim übrigen Adel besonders begehrt, wo ihr Besitz zu einem Statussymbol und die Bilder selbst teils zu königlichen Geschenken wurden. Entsprechend viele Künstler:innen kopierten sie und übernahmen so die venezianische Manier. Unter diesen war auch der flämische Maler Anthony van Dyck (1599-1641), welcher vor allem mit Portraits im Stile Tizians aufstieg.[13]

Ähnlich verhielt es sich in Spanien. Am dortigen Königshof, wo sich die wahrscheinlich umfangreichste Tizian-Sammlung befand, soll u. a. Peter Paul Rubens (1577-1640) viele Werke des Meisters kopiert und erkennbar von diesen beeinflusst wurden sein. Später war auch Diego Velázquez (1599-1660) als Hofmaler dort bestens mit den Werken beider vertraut. Insgesamt orientierte sich die Malerei und Kunsttheorie beider Länder seit dem 17. Jahrhundert zunehmend am venezianischen Kolorismus und den Traktaten von Pino oder Dolce.[14] Konkret sichtbar wird das auf interessante Weise in Velázquez Gemälde Las Hilanderas: Dort findet sich auf einem Wandteppich im Hintergrund eine Darstellung von Tizians Raub der Europa. Durch den mythologischen Hintergrund des Bildes und die im Vordergrund gezeigte Tätigkeit des Spinnens sowie die eindrucksvolle Zurschaustellung seiner koloristischen Maltechnik, mit lockerer Pinselführung und sattem Farbauftrag, wollte er wohl gezielt auf die Stellung der Farbe und die Vereinigung von Invention und Handwerk bzw. Kunstfertigkeit verweisen, sowie darauf, in wessen Tradition er sich sah.[15]

Es zeigt sich, dass Venedigs Malerei eine besondere Stellung innerhalb der Kunstgeschichte einnimmt. Neben schon erwähnten direkten Dialogen, u. a. mit den Niederlanden, hatte vor allem das venezianische Kolorit einen besonderen und nachhaltigen Einfluss auf die europäische Kunst seit dem 16. Jahrhundert, bis zum Impressionismus und in die heutige Zeit hinein. Maler wie Rubens, Velázquez, William Turner (1775-1851) oder Eugène Delacroix (1798-1863) sollen ihre Meisterschaft der Farbe nicht zuletzt durch die Aufnahme der Lehren der Venezianer:innen erreicht haben.[16] So entfaltet sich ihre ungebrochene Wirkung nicht nur in ihren eigenen Werken, sondern ist auf verschiedene Weise, manchmal vielleicht unbewusst, für Betrachter:innen von Gemälden überall auf der Welt spürbar.

Sven Klingen

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[1] Vgl. Koreney, Fritz: „Venice and Dürer“. In: Aikema, Bernard / Brown, Beverly Louise (Hgg.): Renaissance Venice and the North. Crosscurrents in the time of Dürer, Bellini and Titian. London 1999, S. 240-331, hier S. 240; Aikema, Bernard / Brown, Beverly Louise: „Venice: Where North Meets South“. In: Aikema, Bernard / Brown, Beverly Louise (Hgg.): Renaissance Venice and the North. Crosscurrents in the time of Dürer, Bellini and Titian. London 1999, S. 18-25, hier S. 21.

[2] De Logu, Giuseppe / Abis, Mario: Venezianische Malerei. Budapest 1978, S. 8-11; Donahue, Kenneth / Pignatti, Terisio: The Golden Century of Venetian Painting. Los Angeles 1979, S. 9f., 13-18.

[3] Vgl. Aikema / Brown 1999, S. 19-25; Dunkerton, Jill: „North and South: Painting Techniques in Renaissance Venice“. In: Aikema, Bernard / Brown, Beverly Louise (Hgg.): Renaissance Venice and the North. Crosscurrents in the time of Dürer, Bellini and Titian. London 1999, S. 92-103, hier S. 100-103; Aikema, Bernard / Martin, Andrew John: „ Crosscurrents with Germany: The Spread of the Venetian Renaissance“. In: Aikema, Bernard / Brown, Beverly Louise (Hgg.): Renaissance Venice and the North. Crosscurrents in the time of Dürer, Bellini and Titian. London 1999, S. 332-423, hier S. 338f.

[4] Vgl. Dunkerton 1999, S. 101-103; Aikema/Martin 1999, S. 338f.

[5] Vgl. Hills, Paul: Venetian Colour. Marble, mosaic, painting and glass 1250-1550. New Haven, London 1999, S. 203, 210.

[6] Vgl. Hills 1999, S. ix, 207.

[7] Vgl. Hills 1999, S. 201, 207; Pedrocco, Filippo: Tizian. München 2000, S. 17, 20, 53f.; Aikema / Brown 1999, S. 25; Dunkerton 1999, S. 102.

[8] Vasari, Giorgio / Lorini, Victoira (übers.) / Irlenbusch, Christina (Hg.): Das Leben des Tizian. Berlin 2005, S. 8. Vgl. auch S. 9-11; Goffen, Rona: Renaissance Rivals. Michelangelo, Leonardo, Raphael, Titian. New Haven, London 2002, S. 265f.

[9] Vgl. Hills 1999, S. 207-209, 214.

[10] Vgl. Vasari / Irlenbusch 2005, S. 7-10; Krieger, Verena: „Arachne als Künstlerin. Velázquez’ Las hilanderas als Gegenentwurf zum neuplatonischen Künstlerkonzept“. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 65, 4, 2002, S. 545-561, hier S. 554.

[11] Vgl. Vasari /Irlenbusch 2005, S. 7-10; Krieger 2002, S. 553-556, 559.

[12] Vgl. Krieger 2002, S. 553-556; Vasari / Irlenbusch 2005, S. 8.; Hills 1999, S. 220.

[13] Vgl. Pedrocco 2000, S. 17; Reinhardt, Sophie: Tizian in England. Zur Kunstrezeption am Hof Karls I. (= Europäische Hochschulschriften, Reihe XXVIII, Kunstgeschichte, 339). Phil.Diss. Bonn 1999. Frankfurt a. M. 1999, S. 11-19, 35-37, 179-184.

[14] Freedberg, David, u. a.: Titian and Rubens. Power, Politics, and Style. Boston 1998, S. 29, 31, 36f., 46f.; Zollinger, Edi: Herkules am Spinnrad: Rubens – Velázquez – Picasso. München 2020, S. 19f.; Reinhardt 1999, S. 19; Krieger 2002, S. 553, 556f., 560.

[15] Vgl. Krieger 2002, S. 545-550, 553, 558, 560f.; Zollinger 2020, S. 20.

[16] Vgl. Hills 1999, S. ix.

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